Heimkehr

Dieses Land ist meine Zuflucht. Ihm vertraue ich meine Kindheit an. Schwer ist seine Last auf mir. Der ganze Himmel liegt auf meinen Schultern, die Wälder wachsen in mich empor, winden sich um meine seltsamen Träume von Neubeginn und weiter Ferne. Die Horizonte, die ich in ihm suche, werden weiter mit jedem Jahr, das mich hinauf in unverstandenes Alter zieht. Diese Linie dort, fein und blau wie aus einem unvollendeten Gemälde eines lange toten Künstlers, ist die Grenze meiner Ahnung, was die Welt noch offen hält. Darüber hinaus liegen Zeiten rätselhaften Erwachsenseins.
Nun gehe ich, und der Abschied ist groß und doch still. Er liegt in allen Dingen: in den vom nahenden Gewitter dunkel wogenden Kronen der Lindenbäume im Kirchhof, in der Vertrautheit eines sich biegenden Weges zwischen Brombeerhecken und blühendem Ginster, dort oben in den Wäldern, deren Schatten meine Kindheit bewahren. Aber ich gehe nicht alleine: es folgt mir eine Welt, die sich ausdehnt in die Zeit.
Ich sehe einen Nachmittag, den ich alleine zuhause verbringe. Ich blicke aus dem Fenster hinauf zum Waldrand. Es ist ein schöner Tag, der Himmel liegt weit und frei. Von einem leisen Sommerwind zerfranste Wolken warten, dass die Sonne sich in den Abend neigt. Weißt du, wie viel Wolken gehen weithin über alle Welt? Meine Mutter hat eine schöne Stimme, eine Stimme langer Geschichten, eine Geschichtenstimme; aber erinnern, wie sie geklungen hat, als sie mit diesem Lied den Schlaf aus rätselhaften Winkeln rief, kann ich mich nicht. Da ist nur dieser Waldrand und die brütende Stille des Kinderzimmers. Keine Erinnerung an Wiegenlieder, an weiche Kissen mit verworrenen Mustern im Gewebe, an das Versinken in der Tiefe bleiernen Kinderschlafes. Der Waldrand liegt im hellen Sonnenlicht. Er flimmert in der Hitze. Duftende Sträucher mit Beeren, die auf die Fäulnis des Spätsommers warten. Auf den Feldern hinter dem Haus, ein schimmerndes Meer, schwimmt der Nachhall eines Liedes, das in zu großen Sommern Zuflucht war.
Dann eine Klassenfahrt, Maibummel, heller Frühling, zu warm für diese Jahreszeit. Man ist in langen Reihen über die Felder gewandert, geführt von Lehrern mit weißen Schirmmützen, die sie aussehen lassen wie Rentner beim Boccia. Jetzt brennen viele Lagerfeuer. Die Würste haben wir auf lange Stöcken gespießt und halten sie über die Glut oder mangels besseren Wissens direkt in die Flammen, wo sie rasch verkohlen. Alle haben Süßigkeiten eingepackt. Auf Klassenfahrten ist erlaubt, was auf dem Schulhof verboten bleibt. Meine Wangen brennen, vom nahen Feuer und von der zu heißen Frühlingssonne. Der Lärm der Kinder schwirrt in meinem Kopf. Taumelndes Leben, selbst die Wälder taumeln in bunten Kreisen überschäumender Lebenskraft.

"... die Grenze meiner Ahnung, was die Welt noch offen hält."

Wir sind unsterblich, denke ich, unsterblich, denn da ist Vater, der mit uns durch die Waadt fährt. Es ist ein heißer Tag. Der warme Fahrtwind streicht durch die offenen Autofenster. Die Hügel mit den kalksteingelben Dörfern und den Weinbergen fliegen vorbei. Neben Vater sitzt Mutter, das sommerhelle, fast weißblonde Haar mit einer Schleife zusammengebunden. Eine altersschwache Musikkassette knistert Bridge over troubled Water. Er ist eine Brücke über unruhige See, dieser Ausflug, ein banges Hoffen, dass es so bleiben wird, auch dann, wenn wir wieder zuhause sind, dass Vater nicht gehen wird, dass Mutter ihn zurückhält. Bleiben, alles soll bleiben, die Zeit sich an diesem Glück die Zähne ausschlagen. Die immer selben Chimären, die satt und zufrieden in den zu weichen Trümmern zerbrochener Kinderwünsche schlafen.
Irgendwann aber sehe ich das Rudel und weiß augenblicklich welcher Hund auf uns wartet. Er liegt ein wenig abseits, den Kopf auf die Pfoten gebettet, und beobachtet seine Geschwister, die sich freudig in einen Ball verbeißen. Er ist grösser als die anderen und seine Ohren sind aufgerichtet, obwohl sie - der Rasse gemäß - angelegt sein sollten. Deswegen lässt sich mit ihm nicht züchten, sagt uns die Züchterin und verwirft die Hände, verwirft diesen Hund, der sich nicht an ihre Pläne hält. Er ist zu anders, doch - und ihre Stimme hebt sich in eine ärgerliche Verwunderung - er führt dieses Rudel. Es ist mein Hund, ich weiß es. Er ist wie ich. Er beschreitet Brücken über unruhige Gewässer, und doch liegt ihm nichts an diesen Brücken, die seine Träume über die Dunkelheit tragen. Er steht daneben und wartet auf den richtigen Augenblick, der vielleicht nie kommen wird. Er wartet darauf, die Welt in einem Sandkorn zu sehen und den Himmel in einer wilden Blume.
Vielleicht liegt um diese Zeit noch kein Schnee, doch der Boden ist hart gefroren und auf den verwahrlosten Feldern liegen Kohlreste. Möwen suchen auf den blauschwarzen Feldern nach Essbarem, dazwischen einzelne Krähen wie vom Wind zerpflückte Schatten. Vom Hügel aus blicke ich auf den Hof meines Paten, die große Scheune mit dem angewinkelten Stall und dem Wirtschaftsgebäude, im Hof ein überdachter Brunnen, der als Pferdewäsche dient, das Wohngebäude mit dem Schwimmbecken und dem Feuerteich etwas abseits, hinter dem Hof die Weiden mit den Obstbäumen, noch weiter dahinter der dunkle Saum des Tannenwaldes, schweigend und mächtig, eine Mauer zwischen den Welten. Dieser Anblick erschüttert mich: Die Obstbäume, der Waldsaum, der gefrorene Boden, der Duft nach Pferden und Winter. Man könnte endlos über diese kalte Steppe gehen, immer auf den Waldrand zu, weit ausholende Schritte im gefrorenen Gras, das knirscht wie eine sich in feine Kapillaren aufspaltende Eisfläche.
Dann ein Sturm, der über den See zieht. Er ist von Westen her aus dem Burgunderloch gekrochen, hat sich dicht an die Jurahänge geschmiegt, durch die Wälder und die Rebberge, durch die verlassenen Innenhöfe träumender Patrizierbauten, die ich bewohnen will und müsste ich die Zimmer mit klagenden Gespenstern teilen. Die Fahnen am Hafen flattern hektisch an ihren metallenen Masten. Das Klicken der Ösen ist ein heller Trommelwirbel. Oben in Biel flackert ein gelbes Sturmlicht wie das eine Auge einer wilden Gottheit. Die schwarzen Wolken kochen am Himmel. Kränkliches Licht dunstet aus ihnen hervor. Die Schiffe liegen vertäut in den aus steinernen Molen gebildeten Häfen. Ich schwebe in der dichten Luft, und ich glaube, die Nacht auf meiner Zunge zu schmecken, die Nacht und die Geheimnisse im Herzen des Sturmes.

"... unter Wurzelstrünken und der weiten Herrschaft der Wolkenburgen."

Dann eine stille Bar um vier Uhr morgens. Eine letzte Lampe wirft staubiges Licht auf die Gläser im Regal. Es riecht nach Zigarettenrauch, rissigem Leder und verschüttetem Whisky. Oban und Isle of Jura. Torffeuer, nasse Wiesen im Nebel, alte Steine und irgendwo die Reste eines traurigen Liedes. How dearly I longed for to wander once more. Wie liebe ich diesen Ort um diese Zeit, wenn alles nur noch ein Nachklang ist, eine flimmernde Erinnerung an achtlos zerbrochene Freundschaften und umso hellere Träume von Wiederfinden, Wiederkehr, zuletzt Wiedergeburt, denn nichts kann sterben, was auch nur einmal diese Träume träumte.
Dann die Katze, die einen schweren Bauch durch den Frühling trägt. Sie hat sich in den Garten zurückgezogen, in die schattige Zuflucht zwischen Rittersporn und Kamille. Zwei Tage lang ist sie nicht mehr zu sehen, bis sie am Morgen des dritten Tages vor der Haustür wartet und den Menschen durch den Garten führt, geduldig, sich immer wieder umschauend, ob man ihr noch folgen kann. Sie geht zur alten Holunderfrau, die in der Mitte des Gartens steht und ihre weißen Blüten in den tosenden Frühling hält. Ihr alter Stamm, zweimal gebrochen, ein Blitzeinschlag, ein Sturmwind vielleicht, birgt eine vulvaartige Öffnung, hohl und dunkel, ausgekleidet mit weichem Moos. Die Holunderfrau ist die Mutter des Gartens. Sie ist die Holde, die weiße Percht, die in bangen Nächten zu den Kindern schaut, wenn Mütter und Ammen in erschöpften Schlaf gesunken sind. Die Katze wurde von ihr gerufen, eine Einladung, sich in ihr niederzulegen und in ihrer Geborgenheit niederzukommen. Nun schlafen vier noch blinde Katzen in ihrem Schoss, und ist die Mutter unterwegs, singt die Holunderfrau alte Wiegenlieder, die schon gesungen wurden, bevor die Menschen in ein ruhelos Dasein traten.
Schließlich die Kirche an einem hellen Sonntag. Die bunten, bleigefassten Fenster blicken auf mich nieder. Ein weiches Licht und die Erinnerung an leise Geschichten, deren Klang im Geist verbleibt. Großer Gott wir loben dich, höre ich die Gemeinde singen. Ihr Gesang steigt durch die gewölbte Decke in den Frühling empor, der lindengrün über dem Land ruht.
Aber auch Großvaters Weizenfeld, das in den Abend reichte. Heute steht dort eine Lagerhalle vor einem Parkfeld. Seid verflucht - hört ihr? - seid tausendfach verflucht.
Und dann das sich im Winterwind wiegende Schilf. Die Kälte schneidet in die Haut, lässt den Atem gerinnen. Der See ist meergrün und mit kleinen Schaumkronen verziert.
Und ein bronzener Herbstabend, ein zu lautes Herz in der Brust und die Gewissheit, nicht mehr alleine zu sein, eine schwere Gewissheit, in ihrer Bedeutung kaum zu ergründen.
Und nach einem langen Tag des Spiels zwischen den Bäumen des Kirchhofs und den Straßen des Dorfes - es dunkelt bereits - mit klammen Fingern und roten Wangen nach Hause zurückkehren, um sich an den gedeckten Tisch zu setzen. Da sitzt der Bruder und daneben die Mutter. Zu dritt sind wir die Form der Welt, und diese Welt ist meine Form.
Der Abschied hat einen eigenen Willen. Er nimmt mir die Worte, die ich brauchen würde, ihn zu beschreiben. Ich lege meine Träume in diesem Land zurück, vergrabe sie unter Wurzelstrünken und der weiten Herrschaft der Wolkenburgen. Es ist schwer, unsäglich schwer, eine Schwere, die kaum zu tragen ist. Es ist nicht viel, was man mitnimmt, und doch ist es alles: Die Möglichkeit nach Hause zu finden.

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