Als
Kind hatte ich kaum Freunde. Ich war verschlossen und sonderbar, wie die
Lehrerschaft mir freimütig mitteilte, als würde es erklären, wieso ich die
große Hofpause damit verbrachte, dem Spott meiner Mitschüler zu entkommen, im
Schatten des alten Hasels am Rande des asphaltierten Pausenhofes ein Obdach suchte,
weil ich spürte, dass er mir - im Gegensatz zu manchem Lehrer - beistand. Man schickte
mich in die Heilpädagogik, um meine Rechenschwäche zu behandeln, dann in die
Psychomotorik, die Kinesiologie mit Klangschalen und bunten Tüchern, später dann
in weiße, beunruhigende Zimmer in einer neurologischen Klinik, wo juckende
Elektroden auf meiner Kopfhaut die Wellen meiner sonderbaren Gedanken
in verständliche Bilder übersetzen sollten. Gab es ein Ergebnis, ein Resultat,
wie bei einer dieser kalten Rechenaufgaben, die mir so unendlich schwerfielen,
so hat man mir dieses nie mitgeteilt. Kein Arzt erklärte mir, was ich zu tun
hatte, um nicht mehr alleine zu sein. Also blieb ich sonderbar, unter Beobachtung
zwar, aber grundsätzlich harmlos. Ein Träumer, wie mein Vater eines
Tages beunruhigt feststellte, während ich die Regenrunen auf der nassen
Fensterscheibe zu deuten versuchte und dabei mein Mittagessen kalt werden ließ.
Ich lief die ausgetretenen Wege der vielen anderen sonderbaren Kinder,
die vor mir durch das Zwielicht langer Schulkorridore gegangen waren, verfolgt
von Gelächter und alltäglichen kleinen - aber wir haben es doch nicht ernst
gemeint - Streichen. Zuhause aber lagen die langen, stillen Nachmittage schwer
wie mattes Blei auf meinen Träumen, während ich den Lärm der spielenden Kinder
zu hören glaubte, nur ein Echo im Kaleidoskop meines Kopfes.
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"Ein Geschenk aus magischen Zeichen." |
Meine
Mutter hatte nur wenig Geld, und wenn wir in der Schule unsere Pläne für die
bevorstehenden Sommerferien vorstellen mussten - eine wiederkehrende Demütigung im Schatten
der Wandtafel - erfand ich ferne Ziele, die ich niemals besuchen würde. Ich erzählte
von Frankreich und England, von Burgen und dem Meer, das ich noch nie gesehen
hatte. Ich kannte diese Orte, als würde ich - gleich wie meine Schulkameraden - jedes Jahr mit einem vollbepackten Auto, das Heiligtum jeder Familie, in die
Ferne fahren, entlang von rauschenden Sonnenblumenfeldern, während Vater und
Mutter ein Lied auf den Lippen haben, in dessen Refrain die Kinder auf der Rückbank
freudig einstimmen, ein liebgewordenes Familienritual, der Aufbruch in eine
glückliche, eine gemeinsame Zeit. Ich kannte diese Orte, weil ich von
ihnen gelesen hatte; und hätte meine Mutter mir nicht die Liebe zu Büchern und
Geschichten geschenkt, ich bin sicher, dass die kalten Zimmer der neurologischen
Klinik mich verschlungen hätten wie der Walfisch den armen Geppetto. Meine
Mutter lehrte mich, was ich Jahre später in einer schwer erträglichen Geschichte
in die richtigen Worte gekleidet fand: Alles kann man dir nehmen; dein Hab
und Gut, deine schönsten Jahre, deine sämtlichen Freuden, deine gesammelten
Verdienste und sogar dein letztes Hemd - doch es bleiben dir noch immer deine
Träume, um die Welt, die man dir gestohlen hat, neu zu erfinden (Yasmina Khadra).
Also erfand ich, und während ich las und schrieb, verzweifelt
wie ein Schiffbrüchiger, der mit bloßen Händen das eindringende Wasser aus einem
Leck geschlagenen Rettungsboot schöpft, überlebte ich meine Jugend; und ich
überlebte sie, weil ich mich mit Krabat in die Kantorka verliebte; und weil ich
mit Frodo den Weg zu den Grauen Anfurten fand; und weil ich mit Thorgal in die
Dunkelheit der Unsichtbaren Festung hinabstieg. Ich überlebte und wurde
erwachsen; und während ich die Gläsernen Türme betrachte, die unsere Welt und
unsere Träume verdunkeln, sehe ich meine Tochter und erkenne, dass ich ihr jetzt
schon ein Geschenk machen muss, das die weißen Zimmer, das kalte Gelächter und die
große, grinsende Einsamkeit in unbedeutende Splitter bricht. Ein Geschenk aus
magischen Zeichen. I gave her gifts of the mind, I gave her the secret sign. Die Magie der Erzählung.
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