Mittsommer

Das Gewitter schickt die Gäste heim. Wir sehen sie davonziehen mit ihren Schwimmringen und Sonnenschirmen. Sie halten die Hände ihrer Kinder, die nach oben schauen und sagen, da ist Feuer am Himmel, und die Mütter schauen auf ihre Kinder nieder und sagen, das ist ein Blitz. Langsam leert sich der Parkplatz. Unter den Blechdächern sind die Gäste sicher. Der hart klopfende Regen will sie nicht an der Rückfahrt hindern. Der Wind scheucht die Autos auf die Straßen. Es ist Sonntagabend. Eine Stunde für die Heimfahrt, vielleicht zwei, aber immer noch rechtzeitig zum Abendessen. Dann der Spielfilm im Fernsehen. Die Kinder dürfen bis zur vierten Werbepause schauen. Der Film ist wie die Ehe ihrer Eltern abzüglich der weißen Zähne, doch mit einem ebenso absehbaren Ende. Später im Bett werden sie sich an das weiße Himmelsfeuer erinnern, das die Sorgen an den kommenden Schultag aus ihren müden Köpfen brennt. Die schwarzen Wolkenburgen ziehen weiter, sie jagen den Autos hinterher und prallen auf die Hitze einer verwelkten Stadt. Hier aber ist die Luft kühl und leicht wie ein Herbstmorgen. Die Abkühlung ist von kurzer Dauer. Es ist Mittsommer und nun endlich Zeit, in die Mitte des Sommers zu treten.


"... hinaus in diesen Anfang, die Sterne im Nacken, die Sonne auf der Stirne ..."

Der Weg ist verlassen. Etwas abseits sitzen zwei Krähen auf einem trockenen Baum. Sie erzählen sich, was sie gesehen haben auf ihren Reisen. Ich denke, sagt die eine. Ich erinnere mich daran, sagt die andere. Sie haben die Menschen lange beobachtet, haben ihre vielen Leben studiert und ihren Worten gelauscht. Bald werden sie in die Tiefe des Horizontes zurückkehren. Jemand hat sie gerufen, dem sie Folge leisten.
Später gelangen wir an den See. Das Wasser liegt ruhig und wartet auf die Nacht, die noch nicht kommen will. Das Laufen war anstrengend und hat uns die Hitze in den Kopf getrieben. Mückenschwärme haben uns begleitet, und unsere Beine sind geschwollen von den vielen Stichen. Der See ist kalt und dunkelgrün. Die Hitze flieht aus unseren Gliedern, als wir in seine Tiefe fallen. Mit schnellen Zügen schwimmen wir hinaus in das Ende der Welt. Hinter uns am Strand brennt bereits ein Feuer, und wir wissen: Dorthin kehren wir zurück.
Dann sitzen wir im Sand, die klammen Körper am Feuer wärmend, die Blicke in der Glut nach Worten suchend. Langsam erhebt sich die Nacht über den Tag, der lang war und laut. Die Eichenwälder beginnen zu rauschen. Ein Seewind hat sich in ihnen verfangen und findet den Weg nicht hinaus auf die sanfte Gischt der Wellenkämme. Über uns erblüht der Sternenhimmel, ein altes Reich, das niemand mehr kennt. Der Nachthimmel ist ein auf dem Kopf stehendes Meer. Drachenschiffe gleiten durch seine schwarzen Wogen, und Sternenmilch sprüht vor den Bugen. Wer hinauf sieht in die Weite, der erinnert sich an Liebste, die gegangen sind, irgendwohin weiter in ein namenloses Elysium. Sie warten dort und wissen nicht, dass wir hier unten verloren sind. Doch wüssten sie es, würden sie zurückkehren, um uns die atemlose Trauer zu nehmen, die uns müde macht und stumm?


"... man will sich niederlegen, hier in den Sand, sich aneinander lehnen und in weiche Träume sinken."

Das Feuer ist unsere Welt geworden. Ab und zu muss man in den Wald, um neues Holz zu finden. Dann steht man in der Dunkelheit und spürt die Blicke, während man die Rinde einer gefällten Eiche vom Stamm schält, und da beginnt man zu verstehen, dass man nur geduldet ist und andere hier wachen, die jeden Baum beim wahren Namen kennen und wissen, wer draußen in den Wellen lebt.
Wir sind erfüllt von Mitternacht und betrunken vom hellen Bier. Die stiebenden Funken zeichnen Feuerwege in die Nacht. Kirschen werden herumgereicht. Sie sind süß wie der sanfte Nacken einer Frau. Man gräbt Geschichten aus der weißen Asche. Sie beginnen mit unscheinbaren Worten und werden doch groß und schwer.
Ohne dass man darauf geachtet hätte, ist die Nacht alt geworden. Die Sterne flackern wie unsere erschöpften Augenlider. Von Osten her verliert die Dunkelheit an Dichte. Es ist kein Licht, das dort zu glühen beginnt, doch ein erster blasser Vorbote, mehr Ahnung als Gewissheit, ein scheues Schimmern im Zwielicht. Dann Homers rosenfingrige Morgenröte. Eos, die Früherwachende, zieht in ihrem von Pferden gezogenen Wagen über den nordöstlichen Horizont. Schwankend und schläfrig sind wir noch, man will sich niederlegen, hier in den Sand, sich aneinander lehnen und in weiche Träume sinken. Doch es ist nicht richtig, jetzt zu schlafen, denn die Welt beginnt zu pulsieren, eine anschwellende Kraft, Lichtspeere und Sonnenschilde. Diese Stunde ist ein Abbild allen Urbeginns. Glaubt der Mensch an Mächte, die zu erreichen außerhalb seiner Möglichkeiten stehen, dann ist es hier und jetzt, wo er sie doch erlangen könnte. Das irisierende Wasser des Sees schmiegt sich weich um unsere Knöchel, und man will hinaus, hinaus in diesen Anfang, die Sterne im Nacken, die Sonne auf der Stirne, diesem hellsten Licht entgegen, das nun über die Hügel flutet und uns die Müdigkeit der durchwachten Nacht aus den Augen wäscht.
Es ist die Stunde des großen Sieges, und wir führen die Hände vom Herzen zum Himmel. Dann ein volles Horn mit starkem Bier. Der Schaum schwappt golden über. Wir trinken auf Hohe, auf die Sunna, auf Geburt und Anbeginn, auf das triumphierende Leben, dann auf jene, die nicht hier sein können und doch hier sind, zuletzt auf uns, denn wir sind hier und es ist gut, und es gibt keine Trauer, die groß genug wäre, gegen uns zu stehen.



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