Epona

Er sitzt auf einem Pferd, einem jungen, ungestümen Freiberger, dessen Glieder in voller Kraft stehen. Die Uniform ist neu und fühlt sich an wie eine feine Drachenhaut mit biegsamen Schuppen, unberührt von bitteren Zeiten. Dazu schwarze Schaftstiefel, die bis unters Knie reichen, und eine über den Ohren eng sitzende Mütze aus demselben feldgrauen Stoff wie die Uniform. An der linken Hüfte ein langes Bajonett, einem Schwert ähnlich. Seine Augen sind kaum zu erkennen, der Schirm der Mütze hat ihm einen Schatten auf Stirn und Blick gelegt. Nur die hohen Wangenknochen setzen eine harte Kante, an denen sich das Sonnenlicht brechen kann. Um den Mund aber spielt noch eine knabenhafte Weichheit, und den leicht geöffneten Lippen wollen vertraute Worte wie Brotbeutel und Daunendecke entweichen.
Er steht im Kasernenhof, einem weißen Geviert von der Größe des väterlichen Weizenfeldes. Der schlimme Krieg ist vorbei. Man hat ihm zugesehen und gehofft, er möge seine Blutspur nicht über den Rhein ziehen. Die Furcht war groß und lange, die Finsternis aber blieb draußen. Jetzt ist es Sommer, und während die Asche des Weltenbrandes erkaltet, denkt er an seine Frau, die in den vollen Feldern steht und zum Jura blickt. Er streicht dem Pferd über die sonnenwarme Flanke. Bald wird er zurückkehren, um bei der Ernte zu helfen, und bald wird er Vater sein. Ein Mädchen, aber das weiß er noch nicht.


"... die Herrschaft eines alten Gottes, der in allen Bildern wohnt."

Viele Jahre später schläft er in einem fremden, nach Sauberkeit und zu oft gewaschenen Laken riechenden Bett und spürt in sich das goldene Herbstflimmern, das sich draußen wie der Schatten einer Gotteshand über die Wälder legt. Am Himmel fliegen Möwen, weiß leuchtende Tagesgestirne, die aus den Schilfgürteln der Seen auf die nahen Felder fliegen. Sein Atem ist schwer und zittert in den brüchigen Lungen. Alles vergeht und schwindet. Trübe Schleier schwimmen vor seinen Augen und nehmen ihm die Sicht auf die Felder und den wie ein schweigendes Meer ausgebreiteten Himmel. Kaum bleibt ihm die Kraft, die Hand zu heben. Alles ist ein Ausatmen in das Draußen, hinaus in das Licht, leicht und „ganz planlos frei von Zukunft“, denn es gibt keinen Gedanken mehr, der in ein Morgen verweist. Er selbst ist sein eigenes Morgen, er selbst ist Zukunft geworden, die fortan nicht mehr in ihm reifen muss. Seine Zukunft strömt wie der Atem eines alten Baumes durch ihn hindurch, von den Wurzeln bis weit hinauf in die feinen Zweige, die den Abgrund des Himmels berühren. Er schaut sich an, schaut nieder auf seinen Leib, der dort unten liegt und nicht mehr ihm gehört. Sein Leib ist ihm zu schwer geworden, als dass er ihn noch hätte bewohnen können. Aber er ist nicht mehr wichtig, dieser Leib. Er wird Erde werden, die dunkle Furche eines Bodens, über den er ein Leben lang gegangen ist, den er zwischen den Händen zerrieb, um die Güte des Ackers zu prüfen, so wie sein Vater es ihm gezeigt hatte, damals vor dem Krieg, damals vor dem großen Leben mit den Kindern, der Frau und den weiten Träumen, die alles verbanden, was alleine für sich stehend nicht zu seinem Leben geworden wäre sondern zum Leben eines anderen.
Er greift ein lose baumelndes Zaumzeug. Das Pferd hebt den Kopf, und das Zaumzeug spannt sich. Seine Hände aber wissen, wie man das Tier wieder beruhigen kann. Behutsam streicht er dem Freiberger über die Stirne und blickt in seine Augen. Was regst du dich denn auf, Bursche? fragt er. Er führt das Pferd über eine Wiese. Dahinten steht der kleine Hof, der eine Heimat war und Welt geworden ist. Der Weizen des Vaters ist längst seiner. Er steht hoch und dicht. Die Ähren wiegen sich im Wind, der vom See her über die Felder fliegt. Da versteht er, dass man zu einem Gott nicht aufblicken, nicht zu ihm sprechen kann, denn die Götter leben im Wiederfinden des Verlorenen. Im Duft eines blühenden Flieders, der am Wegrand einen Abendschatten in den Sommer wirft. Im Anblick der herbstlichen Felder, die nur sind, weil man sie ins Sein gesetzt hat, mit erdverklebten Händen und müden Beinen. Im Befühlen des samtenen Bauches einer Frau, der unter einem Kleid verborgen liegt und darauf wartet, dass man geheime Zeichen auf ihn zeichnet. Dies ist die Herrschaft eines alten Gottes, der in allen Bildern wohnt. Nun ist auch er ein Bild, und dieses Bild wie er hoch zu Ross im Kasernenhof steht, den Blick in ferne Tage gerichtet, die noch kommen mussten und nun vollbracht sind, wird zum Tempel meiner Erinnerung an ihn und seine blühende Jugend, die ich nicht kannte und die doch in mir fortlebt, vielleicht nur als vager Glanz rätselhafter Göttlichkeit, die sich in meinen Augen spiegelt.

Im Gedenken an meinen Großvater

"Besitz stirbt,
Sippen sterben,
du selbst stirbst wie sie;
eins weiß ich,
das ewig lebt:
des Toten Tatenruhm."

Havamal

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